”BIEBERTAL 2002”

Herbsttreffen der Hersteller und Benutzer von Velomobilen

von Jürgen Eick, Rüsselsheim

Zum inzwischen traditionellen Herbsttreffen von europäischen Velomobilherstellern und –interessenten hatte die Cab-Bike GmbH www.cab-bike.com auch in diesem Jahr eingeladen. BIEBERTAL 2002 fand vom 20. bis 22. September wieder im ehemaligen Forsthaus am Fuße des Dünsbergs statt. Reinhold Schwemmer, German Eslava und Rüdiger Licher, die Cab-Bike-Gesellschafter, haben mit Unterstützung ihrer Frauen dafür gesorgt, dass das Umfeld für den beabsichtigten zwanglosen Erfahrungsaustausch wie bei den Treffen in den Jahren 2000 und 2001 bestens vorbereitet war.

480 Kilometer in zwei Tagen hatten die 16 Niederländer unter der „Reiseleitung“ von Allert Jacobs und Ymte Sijbrandij von www.velomobiel.nl zurückgelegt, als sie am Freitag Abend mit ihren „Quests“, „Mangos“ und „Limits“ am alten Forsthaus eintrafen, eine Leistung, die einen angesichts der Fahrtroute durch das dicht besiedelte Gebiet auf dem rechten Rheinufer und um Köln herum nur staunen lassen kann. Wer schon einmal versucht hat, mit einer ähnlich großen Velomobil- oder Fahrradgruppe zu reisen, weiß, welches Tempo auf freier Strecke vorgelegt werden muss, um eine solche mittlere Tagesleistung zu erzielen.

Matthias Schiller www.pfiffikus-werbe-marketing.de leitete mit einem Vortrag den ersten Diskussionsabend ein. Er versucht mit seiner Ein-Mann-Firma, Velomobil-Enthusiasten mit schmalem Geldbeutel zum Besitz eines Velomobils zu verhelfen und zeigte uns, wie man durch Werbeeinnahmen eine Bank dazu bewegen kann, die Finanzierung eines Velomobils zu übernehmen: Eine gut gestaltete Mustermappe, die man bei Matthias kaufen kann, legt man Firmen vor, für die man Werbung machen möchte und versucht, mit ihnen eine vertragliche Vereinbarung zu treffen, die eine regelmäßige monatliche Werbeeinnahme garantiert. Mit diesem Vertrag (bei einem einzigen Vertragspartner) bzw. mehreren Verträgen (bei Werbung für mehrere Firmen) geht man zur Bank und legt ihn/sie als Garantie für den Kredit vor, mit dem man anschließend das Velomobil teilweise oder möglicherweise sogar voll finanzieren kann. Matthias selbst hat sein „Cab-Bike“ auf diese Weise voll finanziert und ist davon überzeugt, dass der „Hingucker“ Velomobil wegen seiner (vorläufigen) Seltenheit für Firmen ein sehr begehrter Werbeträger ist.

Bild 1: Velomobil-Invasion in Gießen

Joachim Fuchs hat die Absicht, im Jahr 2003 das 5. Velomobilseminar in Fortsetzung einer guten Tradition zu organisieren, nachdem das erste 1993 sowie das dritte 1998 in Dänemark und das zweite 1994 sowie das vierte 1999 in der Schweiz stattfanden. Joachim informiert schon seit längerer Zeit mit seiner Website über Velomobile im allgemeinen (Geschichte, besondere Vorteile, Technik, Erfahrungsberichte usw.) mit Links zu den Herstellern.

Es wurde sehr spät, bis auch die letzten Gespräche an diesem Abend abgeschlossen waren und alle Teilnehmer in ihren Betten lagen.

Das Wetter am Samstag zeigte sich wie am Vortag von seiner besten Seite, als sich 27 Velomobile Richtung Gießen in Bewegung setzten. Reinhold hatte Nebenstraßen ausgesucht, so dass wir nicht allzu viele Autofahrer mit unserem mehr als hundert Meter langen Velomobil-Lindwurm zur Verzweiflung zu bringen brauchten. Im Schritttempo ging es am Schluss durch Gießens Fußgängerzone zum „Nudelmacher“. Vor diesem kleinen Nudel-Schlemmerlokal, das Reinhold Schwemmer und seine Frau Margitta Hofmann mit einem Compagnon betreiben, konnten alle 27 Velomobile zwischen zwei Häusern abgestellt werden, wo höchstens 6 Autos Platz finden würden, wenn sie nicht durch Sperr-Pfosten daran gehindert würden (Bild 1).

Das war natürlich der ideale Ort für Peter Lis mit seinem Sociable „Lissy“. Während wir uns von der Küche des Hauses mit einem herrlichen Nudelgericht verwöhnen ließen, folgten einige Passanten Peters freundlicher Einladung zur Mitfahrt gern und waren anschließend begeistert. Natürlich war auch die Presse informiert und nutzte die Gelegenheit, ein attraktives Foto für den Lokalteil der Zeitung zu erwischen.

Am Ende unserer Rückfahrt erwartete uns ein kleiner Wettbewerb, den sich die Cab-Bike-Leute ausgedacht hatten. Zwischen Biebertal und Königsberg steigt die Landesstraße L3474 auf 2,77 Kilometer mit durchschnittlich 6,5% von 220 auf 400 Höhenmeter an. Am Beginn dieser Steigung wurde der Velomobilkonvoi aufgelöst und jeder durfte versuchen, so schnell wie möglich hinauf zu kommen. Wie erwartet waren die Niederländer mit Ymte an der Spitze nicht zu schlagen, doch als schnellster Deutscher hat Gerd Janß mit seiner „Leitra“ www.leitra.de als Sechster auch eine beachtliche Leistung gezeigt.

Bild 2: Nach der Bergwertung

Allzu lange haben wir uns oben aber nicht aufgehalten (Bild 2), denn der Ostwind hatte kräftig zugelegt und die Temperatur war gesunken, so dass alle froh waren, als sie auf der Rückfahrt hinunter zum Forsthaus in ihren wind- und wetterfesten Velomobilen Platz nehmen konnten.

Der Rest des Nachmittags war ausgiebigem Fachsimpeln gewidmet. Johan Vrielink und sein Sohn André www.flevobike.nl hatten das „Versatile“ mitgebracht, eine Neuentwicklung, die bei der Cycle Vision 2002 im Juni in Lelystad erstmalig vorgestellt wurde. Die Firma Flevobike, die vor Jahren das „Alleweder“ entwickelte und lange Zeit lieferte, hat im „Versatile“ einige bemerkenswerte Neuerungen verwirklicht, deren für den Fahrer wichtigste der niedrige Einstieg, die Lenkung mittels zweier Lenkhebel und die nach vorn aufklappbare Haube sind (Bild 3). Diese drei Eigenschaften, für weniger gelenkige Fahrerinnen und Fahrer nicht zu unterschätzende Ein- und Ausstiegserleichterungen, unterscheiden das „Versatile“ zum Beispiel von den anderen niederländischen Velomobilen „Alleweder“, „Limit“, „Quest“ und auch vom „Mango“, dem verkürzten und wendigeren Bruder des „Quest“.

Aus der Schweiz war Dr. Andreas Fuchs <Andreas.Fuchs@bluewin.ch> vom Veranstalter eingeladen worden. Er ist Geschäftsführer der im Mai 2001 gegründeten Aktiengesellschaft autork ltd. (automated torque konverters) www.autork.com die den seit 1996 an der ehemaligen Ingenieurschule Bern (später Hochschule für Technik und Architektur Bern) von Jürg Blatter und Andreas Fuchs entwickelten kettenlosen Elektroantrieb für Fahrräder und Velomobile voraussichtlich bis 2004 marktreif machen und vertreiben will.

Das System besteht aus vier Komponenten, dem pedalbetriebenen Generator, dem Antriebsrad mit Motor, der Batterie und der „intelligenten“ Elektronik mit Display, die dem Fahrer ein „Bicycle-Feeling“ vermitteln soll, obwohl keine mechanische kraftschlüssige Verbindung zwischen Pedale und Hinterrad besteht. Besondere Vorteile sieht Fuchs in der Möglichkeit, mittels Programm die am Antriebsrad wirkende Kraft verstärken zu können, keine verschleißanfällige und zur Verschmutzung neigende Kette mit Kettenrädern zu benötigen, eine automatische (elektronische) Schaltung zu haben und dem Fahrzeugdesigner mehr Freiheit zu geben zu können.

Die Vorteile zum Beispiel für ein in der Stadt benutztes Fahrrad machte Andreas an der Tatsache fest, dass etwa 60 % der Zeit bei einer Stadtfahrt entweder beschleunigt oder gebremst wird. Beim Bremsen könne ein Teil der Energie wieder in die Batterie zurückgespeist werden. Während Fahrzeiten, bei denen am Tretpedal mehr Leistung abgegeben wird als momentan für das Fahren erforderlich ist (relevant bei sehr aerodynamischen HPV), könne die Batterie geladen werden. Die Beschleunigungsvorgänge könnten wegen der Batterieunterstützung wesentlich kürzer gehalten werden als bei einem normalen Fahrrad (Anm. des Verf.: Da beim in der Regel mehrspurigen Velomobil die Füße bei Ampelstopps ohnehin auf den Pedalen bleiben, kann mit der gleichen Anstrengung wie beim normalen Fahren weiter pedaliert und so zusätzliche Energie für die Beschleunigungsvorgänge angesammelt werden.)

Der Vortrag löste eine sehr angeregte Diskussion aus. Dem Hauptargument der Kritiker, auf dem Weg über Generator und Motor würde wegen deren mehr oder weniger unter 100% liegenden Wirkungsgraden kostbare Bewegungsenergie in Wärme verwandelt, weshalb bei einer Fahrt mit dem kettenlosen System insgesamt mehr Energie vom Fahrer aufgebracht werden müsse als beim Fahrrad oder Velomobil mit Kettenantrieb, begegnete Andreas vor allem damit, dass er die bereits teilweise beschriebenen Vorteile von autork vertiefte und wieder und wieder darauf hinwies, dass die elektronische Transmission als konsequente Antriebslösung für E-Muskelkraftfahrzeuge und nicht als Ersatz der Kette an sich gedacht sei. Auch seine Behauptung, die Höhe der Wirkungsgrade hänge weitgehend vom Preis ab, den man für den Antrieb zu zahlen bereit sein werde, war für die Kritiker nicht von der Hand zu weisen.

Vortrag und Diskussion haben wieder einmal gezeigt, dass eine noch so gute Beschreibung eines neuartigen Systems im Internet und ein Austausch von Argumenten hierüber per Chat oder eMail nicht das direkte Gespräch ersetzen können. Der Verfasser hatte nach Vortrag und Diskussion den Eindruck, dass nur wenige Zuhörer daran zweifelten, dass autork ein ernsthafter Konkurrent der zur Zeit marktgängigen elektrischen Hilfsantriebe werden wird.

Hinsichtlich der im Zusammenhang mit der Diskussion über autork aufgeworfenen Frage, ob 6 V oder 12 V als Netzspannung für Velomobile besser geeignet sei, konnte keine Einigkeit erzielt werden. Einhellige Meinung war jedoch, dass die momentan vom Gesetzgeber (in Deutschland) vorgeschriebenen Leistungsgrenzwerte für die Beleuchtung (max. 3 W bei 6 V und max. 6 W bei 12 V) für Velomobile zu niedrig sind. Auch die in Deutschland vorgeschriebene Dynamo-Pflicht wurde allgemein als antiquiert angesehen. Da Velomobile für den Alltag eine stärkere Beleuchtung benötigen, gibt es nach Ansicht des an der Diskussion teilnehmenden Rechtsanwalts Hartwig Leuer nur die Möglichkeit, gleichzeitig sowohl eine gesetzeskonforme als auch eine praxisgerechte Beleuchtung mitzuführen.

Leuer <hartwigleuer@t-online.de> nahm die Gelegenheit des Hersteller-Treffens wahr, auf eine wichtige im Zusammenhang mit einem möglichen Velomobil-Unfall auftauchende Frage einzugehen. Nach seiner Ansicht müssten Velomobile bei Verwendung als Autoersatz wegen ihrer hohen Anschaffungskosten versicherungstechnisch anders behandelt werden als Fahrräder. Während der Ausfall eines normalen Fahrrads von der Versicherung mit 5 €/Tag vergütet werde, seien beim Ausfall selbst des kleinsten Autos 15 €/Tag die Regel. Leuer gelang es nun in einem ersten Fall, von der Versicherung für den Ausfall eines Velomobils infolge Unfall 10 €/Tag zu erzielen.

Als Kavalier alter Schule hat sich wieder einmal Peter Lis gezeigt, der für ein kleines Dankeschön an die Cab-Bike -Frauen gesorgt hatte und im Namen aller Teilnehmer für das gute Essen und die Arbeit in der Küche dankte. Danach war der Abend aber noch lange nicht zu Ende.

Wie anregend das Treffen gewirkt hat, zeigte sich anderntags bei der Abreise, als sich erst kurz vor Mittag die letzten Teilnehmer zur Heimfahrt entschließen konnten.

Rüsselsheim, 30. September 2002

Bild 3: Das “Versatile” von Flevobike